BLOCKCHAIN IN DER DIGITALEN SUPPLY CHAIN

WER IM WESTEN EINE NOTARIELL BEGLAUBIGTE GRUNDBUCHEINTRAGUNG BESITZT, KANN RUHIG SCHLAFEN.

Denn es muss schon der Weltuntergang vor der Tür stehen, um die Gültigkeit eines solchen Papiers infrage zu stellen.

In vielen Ländern der Welt sieht die Sache anders aus. Denn dort können, unterstützt durch korrupte Behörden, Großgrundbesitzer und Konzerne für umfassende Enteignungen sorgen. Im Zweifelsfall hat eine Grundbucheintragung niemals existiert – oder es stand schon immer der Enteigner drin. Die Blockchain-Technologie könnte diese seit Jahrhunderten herrschenden Zustände innerhalb kurzer Zeit radikal ändern. Denn die in einem Distributed Ledger – einem digitalen, dezentralen Kontobuch – festgehaltenen Informationen lassen sich weder löschen noch manipulieren. Und daran könnten selbst der korrupteste Amtsträger und der dreisteste Landlord nichts ändern.

STELL DIR VOR, ES IST EINE BANK UND KEINER GEHT HIN

Das Potenzial der Blockchain, etablierte Muster mit einem Schlag zu verändern, ist natürlich auch in der Industrie und in unserem täglichen Leben dramatisch. Das zu verstehen, helfen vielleicht ein paar Fakten. Durch den Einsatz der Blockchain können die Infrastrukturkosten im Bankwesen um 30 Prozent gesenkt werden. Das globale Marktvolumen dieser gerade einmal zehn Jahre alten Technologie könnte in lediglich fünf Jahren auf über 20 Milliarden Dollar anwachsen. IBM investiert rund eine Viertelmilliarde Dollar in Blockchain-basierte IoT-Lösungen – und arbeitet beispielsweise mit WAL-MART daran, die Blockchain einzusetzen, um die Lebensmittelherkunft zu verfolgen und Rückrufaktionen zu organisieren. In gerade mal zwei Sekunden kann WAL-MART so feststellen, woher schlechte Lebensmittel kommen. Eine analoge Anwendung bei der Steuerung von Nachrüstungen und Rückrufen in der Automobilindustrie liegt nahe. Besonders augenfällig ist aber die Aussicht im Finanzsektor: Denn plötzlich lässt sich ein komplexes globales Finanzsystem ohne Noten- und Geschäftsbanken, ohne Versicherer, PayPal und Kreditkartengesellschaften denken. Sie haben Kinder? Lassen Sie bloß nicht zu, dass sie eine Banklehre machen …

DISRUPT THE DISRUPTOR

Allerdings: Der Sturm trifft bei Weitem nicht nur die Banken. So greift beispielsweise die israelische Software-Boutique La’Zooz Uber & Co mit ihren saftigen Gebühren frontal an, indem sie eine Blockchain-basierte, dezentralisierte Community-Plattform aufbauen will. Und das deutsche Start-up SLOCK.IT nutzt die Blockchain, um eine globale, dezentrale Plattform für intelligente Schlösser zu entwickeln. Fast nebenbei spricht SLOCK.IT davon, mit seiner Lösung unter anderem die Airbnb-Appartments voll automatisieren zu können. Was die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Airbnb-Geschäftsmodells zumindest in den Raum stellt. Damit könnten gleich zwei der weltweit größten Unicorns dank der Blockchain unter die Räder geraten – noch bevor sie ihr eigenes Disruptionswerk vollendet und den Lohn durch einen erfolgreichen Börsengang kassiert haben.

DER TURBO FÜR DIE TRANSFORMATION

KRYPTOWÄHRUNGEN SIND NUR EINE FACETTE DER BLOCKCHAIN

So viel Dynamik macht einen schwindlig – und skeptisch. Und doch bezweifelt heute kaum jemand, dass die Blockchain ein gewaltiger Hebel sein wird, um Systeme und Prozesse tiefgreifend zu verändern, unzählige Geschäftsmodelle obsolet zu machen und neue zu ermöglichen. Insbesondere die Tatsache, dass eine Blockchain professionelle Vertrauensbroker ersetzt und im Idealfall jede Manipulation von – nicht nur finanziellen – Transaktionen und jede Verschleierung systemisch ausschließt, lässt die Fantasien blühen. Virtuellen Währungen wie Bitcoin, Ethereum oder Ripple, für deren Wert keine zentrale Notenbank mehr bürgt, sind dabei nur eine Facette dieses automatisierten Vertrauens: Denn ihre Fungibilität und Menge sind beschränkt, ihr Einsatz in vielerlei Hinsicht problematisch. Deshalb gilt es eher, den Blick dahin zu richten, wo wirkliche Gewichte bewegt werden – in den finanziellen und industriellen Transaktionsprozessen.

TECHNOLOGIE FÜR DAS IOT-ZEITALTER

Und hier wird es interessant, denn die Blockchain verspricht gerade in einer hochgradig vernetzten, automatisierten und digitalisierten Welt den maximalen Schutz. Auf das Internet der Dinge aufsetzende Prozesse und Geschäftsmodelle basieren häufig auf einer großen Zahl kleinster Transaktionen und Zahlungsvorgänge. Diese lassen sich nur wirtschaftlich gestalten, wenn sie einerseits hochautomatisiert sind und andererseits eine hohe Sicherheit garantieren – und zwar bei minimalen Kosten. Dafür ist die Blockchain-Technologie bestens geeignet – durch de facto nicht korrumpierbare anspruchsvolle Kryptographie, die Verteilung der Kopien des „Kontobuches“ über alle an die Blockchain angebundenen Teilnehmer, die Unveränderlichkeit der dokumentierten Transaktionen. Jeder noch so kleine Prozessschritt und jede noch so unwichtigste Eigenschaft der auf der Blockchain erfassten Objekte sind unveränderbar und unauslöschbar dokumentiert, Finanztransaktionen sind schlank, günstig und schnell umsetzbar.

AUFKLÄRUNG

Nur, so einfach wie die Infografiken der Werbebroschüren ist die Sache offensichtlich nicht. Lediglich jeder achte IT-Manager hat heute eine klare Vorstellung darüber, wie sein Unternehmen die Blockchain einsetzen könnte, wie eine aktuelle IDG-Umfrage zeigt. Die Blockchain-Technologie sei ein wenig wie Teenager-Sex, sagt Vincent Doumeizel, VP beim globalen Auditierungsspezialisten Lloyd’s Register: „Jeder spricht darüber, wenige machen es, und die, die es machen, machen es schlecht“. Zeit für Aufklärung – denn es scheint, als wäre die Blockchain deutlich schwerer zu durchdringen als andere disruptive Technologien wie KI, 3D-Druck oder Robotik. Die technologischen „Wachstumsschmerzen“ – etwa die geringe Geschwindigkeit, der hohe Energieverbrauch oder der aktuell noch herrschende Protokoll-Wirrwarr – sind dafür nicht der ausschlaggebende Grund. Es ist vielmehr die Tatsache, dass Blockchainbasierte Prozesse sich sehr stark von Vorstellungen unterscheiden, die unsere Systeme und Prozessgeflechte seit Jahrzehnten prägen.

DIE WICHTIGSTEN SZENARIEN FÜR DIE SUPPLY CHAIN

RÜCKVERFOLGBARKEIT VON PRODUKTEN, PROZESSEN UND INFORMATIONEN

Je komplexer unsere Produkte und Prozesse werden und je höher der Anteil der Software an ihnen, desto stärker sind wir auf eine absolut fälschungssichere und unterbrechungsfreie Dokumentation angewiesen. Die geringe Tiefe und die globale Verteilung der Wertschöpfung erfordern Vertrauensmechanismen, die heute nur mit gewaltigem Aufwand ermöglicht werden können – wenn überhaupt. Dieses Problem wird durch die zunehmende Skepsis verstärkt, mit der sowohl Endkunden als auch Auditierungsorgane und Regierungsbehörden auf die Wirtschaft blicken. Hier kann die Blockchain helfen, nachhaltiges Vertrauen zu schaffen und eine sichere, rein faktenbasierte und im positiven Sinne amoralische Geschäftsgrundlage zu ermöglichen. Auf technischer Ebene kann über eine standardisierte API sichergestellt werden, dass das Senden und Auslesen von Informationen einem festgelegten Prozess folgt. So können alle am Wertschöpfungsprozess beteiligten Partner einfach eingebunden und den Kontrollbehörden ein klar definierter Datenzugriff gewährt werden – ganz ohne den heutigen Berg an gedruckten und digitalen Dokumenten.

ASSET TRACKING

Analog dem Traceability-Beispiel lässt sich auch das Asset Tracking in der Supply Chain mit der Blockchain-Technologie neu organisieren. So können beispielsweise Maschinen und Anlagen direkt an die Blockchain angebunden werden. Dadurch lassen sich Zustände von Maschinen präzise und ohne menschlichen Eingriff erfassen, Versionsstände im Herstellprozess und Produkteigenschaften lückenlos und echtzeitnah dokumentieren. Gleichzeitig kann auch die im Produktionsprozess eingesetzte Software effektiv überwacht und durch Smart Contracts verwaltet werden. Dabei werden alle Zugriffe in einem Distributed Ledger sicher und vollständig festgehalten. Damit liefert die Blockchain-Technologie auch zentrale Bausteine für die Verwirklichung des Smart-Factory-Konzepts – insbesondere im Hinblick auf Sicherheit, Effizienz und Autonomie.

SMART CONTRACTS

Die vielleicht vielversprechendste Anwendung der Blockchain sind Smart Contracts – Softwareskripte, die letztlich Wenn-dann-Routinen automatisiert ablaufen lassen und beim Empfang bestimmter Parameter automatisiert und nicht manipulierbar Aktionen starten. Das Smart-Contract-Konzept, bereits mehr als zwanzig Jahre alt, gewinnt mit den Sicherheitsstandards und Dokumentationsmöglichkeiten der Blockchain enorme Bedeutung. Im Kontext der Supply Chain können Smart Contracts – die Produktionsereignisse, routinemäßige Eigentumsübergänge, Zahlungsvorgänge oder Lieferavis steuern – einen Rationalisierungs- und Automatisierungsschub auslösen. Insbesondere die „Ricardian Smart Contracts“ können dabei alle vertrags- bzw. auftragsrelevanten Daten enthalten und so für eine hohe prozessuale und rechtliche Transparenz und Sicherheit sorgen. Zwar sind viele rechtliche Aspekte der Smart Contracts heute noch nicht abschließend geklärt – es ist jedoch davon auszugehen, dass die nationalen und internationalen Gesetzgeber in den kommenden Jahren für eine klare juristische Grundlage sorgen werden.

SCHUTZ VON INTELLEKTUELLEM KAPITAL UND MANAGEMENT VON EIGENTUMSRECHTEN

Je mehr Partner weltweit an einer Produktentstehung beteiligt sind, desto komplexer und unübersichtlicher werden die rechtliche Situation und die Bestimmung der Eigentumsrechte. Dies betrifft sowohl die physischen Produkte als auch die digitalen Smart Products & Services, deren Herkunft und Genese schwerer zu ermitteln und zu beweisen sind. Auch der Einsatz von neuen Technologien, wie etwa dem 3D Druck, verschärft die IP-Risiken, wenn etwa nach vorgegebenen digitalen Skizzen weltweit Produkte entstehen. Hier können Smart Contracts nicht nur die finanzielle Transaktion und die Produktspezifikationen, sondern auch die IP klar regeln und für eine eindeutige Herstelleridentifikation sorgen. Dabei können digitale Fingerabdrücke virtueller und physischer Produkte sicher in der Blockchain gespeichert und der Zugriff auf diese Daten einschließlich von Änderungen und Versionen eindeutig dokumentiert werden.

BEYOND THE HYPE

Auf der berühmten Hype-Kurve von Gartner befindet sich die Blockchain aktuell an einem kritischen Punkt – nämlich ziemlich genau an der Scheidelinie zwischen dem „Peak inflationärer Erwartungen“ und dem „Tal der Desillusionierung“. Dieser Übergang ist bekanntermaßen mit einer Implosion der Erwartungen verbunden – und einem einsetzenden, intensiven Realitätstest. Fünf bis zehn Jahre wird die Blockchain laut Gartner brauchen, um als produktive Technologie eine Breitenwirkung zu entfalten. Schon klar, auch die Blockchain wird die Welt nicht über Nacht auf den Kopf und etablierte Geschäftsmodelle in die Ecke stellen. Und manch einer hat das Ende des Tals nie erreicht – oder ist auch nach zehn Jahren noch immer unterwegs. Nur: auf diesen Ausgang zu wetten – das sollte man vielleicht lieber den Landlords Lateinamerikas überlassen.