Die Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie erneuern: eine industrielle Priorität für Europa
Experte: Fernando Cruzado, Partner, EFESO | 24.06.2025 | Teilen auf in

Die chemische Industrie verdeutlicht als einer der besorgniserregendsten Indikatoren, wie sehr das europäische Industriemodell ins Wanken geraten ist. Die Branche, die lange Zeit als strategischer Pfeiler der industriellen Infrastruktur des Kontinents galt, befindet sich heute hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit in einer beispiellosen Krise. Hinter der stagnierenden Anlagenauslastung, den Standortschließungen und den rückläufigen Investitionen verbirgt sich eine fundamentalere Veränderung: die fortschreitende Deindustrialisierung in Europa. Diese mittlerweile strukturelle Dynamik der Markttransformation ist weder neu noch unvermeidlich – sie erfordert daher eine dringende, systematische und koordinierte Reaktion.
Vielschichtiger Verlust an Wettbewerbsfähigkeit
Der Vergleich mit anderen Weltregionen zeigt, dass die europäischen Erzeuger in eine zunehmend schwächere Situation im internationalen Wettbewerb geraten. Vor allem die Energiekosten, die bis zu 30 % der Produktionskosten in der chemischen Industrie ausmachen, sind nach wie vor zwei- bis dreimal so hoch wie in den Vereinigten Staaten oder China. Dieses Preisgefälle schwächt die gesamte Wertschöpfungskette, von den Rohstoffen bis zu den Endprodukten. Hinzu kommt, dass der Druck seitens der Regulierungsbehörden weiter steigt. Umweltpolitische Entscheidungen setzen zwar legitime Imperative zum Handeln; aber lange Genehmigungszeiten, regulatorische Unsicherheiten und die damit verbundenen Gemeinkosten schrecken von Investitionen ab. Industrieprojekte sind heute mit einer beispiellosen verwaltungstechnischen Komplexität konfrontiert, die sowohl ihre wirtschaftliche Lebensfähigkeit als auch ihre strategische Beweglichkeit beeinträchtigt.
Es ist auch wichtig zu betonen, dass Europas traditionelle Stärken - qualifizierte Arbeitskräfte, Innovationskapazität und Integration in regionale Ökosysteme - allmählich erodieren. Die konkurrierenden Volkswirtschaften hingegen wagen mutige Schritte: Die USA lockern regulatorische Beschränkungen und subventionieren strategische Projekte massiv, während die asiatischen Länder ihre Produktions- und Innovationskapazitäten rasch ausbauen.
Angesichts der strukturellen Krise muss die europäische Chemieindustrie strategisch, systemisch und kollektiv handeln.
Auf dem Weg zu einer koordinierten industriellen Reaktion
Angesichts der strukturellen Krise kann sich die europäische Chemieindustrie nicht mehr auf taktische Anpassungen beschränken und verlassen. Die Antwort muss strategisch, systemisch und kollektiv sein. In der kürzlich von mehr als 70 Industrieakteuren und Berufsverbänden unterzeichneten Erklärung von Antwerpen wird ausdrücklich ein europäischer Industriepakt gefordert, um die Wettbewerbsfähigkeit strategischer Sektoren wiederherzustellen – angefangen bei der Chemie, die ein zentrales Bindeglied in fast allen Wertschöpfungsketten darstellt.
In Brüssel werden derzeit strukturelle Maßnahmen diskutiert: Überarbeitung der Mechanismen für staatliche Beihilfen, Straffung der Genehmigungsverfahren für Industrieprojekte und Sicherung des Zugangs zu wettbewerbsfähiger Energie. Aktuell entsteht z.B. ein Fahrplan zur Umsetzung eines speziellen Aktionsplans für die chemische Industrie, der ähnliche Unterstützungsmechanismen wie in den USA (US Inflation Reduction Act) vorsieht, etwa Subventionen für Übergangsprojekte und eine anreizbasierte Steuerpolitik für strategische Investitionen.
In diesem Zusammenhang spielen auch die Industrieunternehmen eine entscheidende Rolle. Mehrere europäische Konzerne haben bereits ehrgeizige Programme gestartet. So kündigte BASF z.B. einen Plan zur Senkung der Kostenbasis um 1 Mrd. Euro bis 2026 an, der Maßnahmen zur Verkleinerung des Unternehmens sowie zur Umstrukturierung von Standorten in Deutschland enthält. Weitere Beispiele zeigen, wie nachhaltige Kostenreduzierungsprogramme die Wettbewerbsfähigkeit von Organisationen steigern.

Praxisbeispiel „One Operations Community“
In zwölf Werken auf vier Kontinenten startet ein Chemiekonzern mit EFESO eine Initiative zur gemeinsamen Leistungssteigerung. Deutliche Verbesserungen bei Kostenfaktoren und Margen stellen sich nach kurzer Zeit ein.
Betriebsmodelle transformieren: Kosten, Innovation, Digitalisierung
Die Anpassung an das neue wirtschaftliche Umfeld erfordert eine tiefgreifende Überarbeitung der betrieblichen Modelle: Erstens, durch Fixkostensenkung und strukturelle Anpassungen. Diese sollten die industriellen Rationalisierungsprojekte oder Initiativen zur gemeinsamen Nutzung von Vermögenswerten umfassen, insbesondere in den Bereichen Instandhaltung, Beschaffung und Logistik. Zweitens, durch eine verstärkte Integration digitaler Tools. Viele Hersteller setzen verstärkt „smarte“ Automatisierungslösungen ein, etwa Drohnen für Anlageninspektionen, Verpackungsroboter oder IoT-Sensoren für die vorausschauende Wartung. Zudem verbessern fortschrittliche Analyse-Tools zunehmend die Prozesserträge und -stabilität.
Diese Weiterentwicklungen zielen nicht nur darauf ab, wirtschaftliche Gewinne zu erzielen. Innovationen speziell im Bereich von Recycling bzw. Nachhaltigkeitslösungen können auch den doppelten Druck abfedern, den gesetzliche und gesellschaftliche Anforderungen im Kontext industrieller Nachhaltigkeit erzeugen. Arkema, ein französischer Hersteller petrochemischer Produkte, investiert beispielsweise in die Produktion recycelbarer Hochleistungspolymere und will seine absoluten Treibhausgasemissionen bis 2030 annähernd halbieren. UPM investiert in eine hoch-innovative Bio-Raffinerie in Leuna, welche erstmals in einem solchen industriellen Maßstab Biochemikalien herstellen soll und in 2025 in Betrieb geht. Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie die europäische Chemie-Industrie sich neu und wettbewerbsfähig im weltweiten Markt positionieren kann.
Neue Perspektiven für die chemische Industrie in der europäischen Wirtschaft
Die chemische Industrie steht naturgemäß am Anfang fast jeder industriellen Wertschöpfungskette. Ihre Abschwächung ist kein sektorspezifisches Problem, sondern ein Frühindikator für einen breiteren industriellen Trend. Dieses Problem anzugehen bedeutet nicht, Umweltziele aufzugeben – es bedeutet, ihre Umsetzung anzupassen: durch solide industrielle Planung, wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Übergängen und Berücksichtigung Relevanz strategischer Wertschöpfungsketten bei Ausgestaltung von energiepolitischen und regulatorischen Rahmenbedingungen.
Weitere Fachbeiträge für die chemische Industrie
Operations-Prozesse der Chemieindustrie zukunftssicher gestalten
Kontinuität im kritischen Wissen: Kernaufgabe für jede Organisation
Gemeinsam zur rentablen Kreislaufwirtschaft
![]() |
Thank you for Signing Up |

