Die Future Factory

Beobachtet man die Trendsetter der Produktion in der Praxis, stößt man auf eine sehr große Varietät. Die konkrete Ausgestaltung der Future Factory hängt nämlich von einer Vielzahl von Faktoren ab, wobei bereits die Frage, ob es sich um ein Greenfield-Projekt handelt, oder um das Upgrade einer bestehenden Fabrik, die erste Wegegabelung bildet. Und es geht weiter mit Fragen nach dem Produktionstyp (diskrete vs. Prozessfertigung), der Produktionstechnologie, dem Grad der Automatisierung, der Time to Customer, der Notwendigkeit, auf Nachfrageschwankungen zu reagieren, der Skalierbarkeit, dem Grad der Kunden- und Lieferantenintegration, der Produktvarianz oder der CAPEX-Intensität. Alle diese Faktoren haben einen starken Einfluss auf das Design, die Schwerpunkte, die Technologien und Prozesse in der Fabrik.

Vor diesem Hintergrund sind deshalb zwei Fragen besonders interessant:

  1. Existieren übergeordnete Rahmenbedingungen und Trends, die trotz der geschilderten Vielfalt jedes Future Factory Projekt beeinflussen?
  2. Lassen sich generelle Bausteine definieren, die für jede Fabrik der Zukunft obligatorisch sind?

RAHMENBEDINGUNGEN UND TRENDS

 

Flexible Fabrik

In nur wenigen Jahren wurde die industrielle Produktion einer beispiellosen Serie geopolitischer, technologischer und ökologischer Schocks ausgesetzt. Und es besteht kein Anlass dafür, auf ein Ende dieser Serie zu setzen. Deshalb müssen sich die Unternehmen für komplexe, dynamische Ereignisse rüsten, die sich heute kaum prognostizieren lassen. Vor diesem Hintergrund steigt die Bedeutung von Transparenz, Resilienz und Flexibilität. Diese Anforderung resultiert in Vorgaben, die für jede industrielle Struktur der Zukunft gelten, wobei fünf Elemente besonders relevant erscheinen.

Dazu gehört die Konzeption von kleineren flexiblen Fabriken, die in Fabriknetzwerken verbunden sind und in der Region für die Region produzieren. Damit einher gehen die Modularisierung und Standardisierung der Anlagenparks sowie die Schaffung digitaler Durchgängigkeit von Auftragseingang bis Warenausgang. Gleichzeitig dürfen Fabriken in Zukunft keine Closed Shops sein, sondern sollten auf intensive Kollaboration in unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsnetzwerken ausgelegt werden. Und schließlich müssen auch die Planungsprozesse so ausgelegt sein, dass sie mit den Strukturen Schritt halten – deutlich schneller, näher am operativen Geschehen, durch kurzzyklische, Entscheidungszyklen geprägt.

Die hohe Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität lassen sich jedoch nur erreichen, wenn die technologischen Potenziale konsequent genutzt werden. Das gilt insbesondere für die Künstliche Intelligenz, die künftig die gesamte Fabrik durchdringt: beginnend bei der Unterstützung von Entscheidungsprozessen bis hin zur Integration in die Fertigung, etwa durch Bilderkennung für prozessintegrierte Qualitätsüberwachung oder die Zustandserkennung aus der Ferne. Daneben spielen insbesondere die konsequente Automatisierung und ein vermehrter Einsatz von Robotik bis hin zu vollautomatischen „Light-out Factories“ eine wichtige Rolle.

Nachhaltige Fabrik

Natürlich muss jede Fabrik der Zukunft auch möglichst nachhaltig ausgelegt sein – ein Ziel, das sich angesichts des fortschreitenden Klimawandels, drohender Ressourcenengpässe sowie juristischer und gesellschaftlicher Erwartungen typenübergreifend stellt. Was bedeutet das im industriellen Kontext? In erster Linie braucht es Produktionsprozesse und -umgebungen, die einen sparsamen Ressourceneinsatz unterstützen, den Energieverbrauch reduzieren sowie Abfall und CO2-Ausstoß vermeiden – bis hin zu einer CO2-neutralen Fabrik.

Erforderlich dafür sind zum einen konkrete Maßnahmen, wie etwa der Verzicht auf den Drucklufteinsatz. Zum anderen gilt es, die Energieströme in der Fertigung intelligent zu verbinden und ein konsequentes Energiemonitoring umzusetzen, das ein tieferes Verständnis der Energieverbräuche von Prozessen und deren Optimierung erlaubt. Bei neuen Projekten lassen sich weitere Potenziale auch durch eine nachhaltige Bauweise heben und durch die Flexibilität im Fabrikdesign, das eine effektive Nutzung auch bei Marktveränderungen ermöglicht.

Und schließlich spielt die Kreislaufwirtschaft in Zukunft eine wesentliche Rolle. Dabei geht es zum einen um ihre konzeptionelle Umsetzung sowie um die Verankerung in Planungs- und Entscheidungsprozessen, zum anderen um die umfassende Integration der physischen Demontage, der Weiterverwendung, des Recyclings und der Rückführung von Ausschuss zum Lieferanten. Dieser Prozess muss bereits im Fabrikkonzept berücksichtigt werden, um höchstmögliche Effektivität und Ressourceneffizienz zu erreichen.

Der Mensch in der Fabrik

Der steigende Automatisierungsgrad und der Einsatz neuer Technologien, die wachsende Bedeutung von Transparenz, veränderte Steuerungs-, Koordinations- und Entscheidungsprozesse sowie neue Herausforderungen wie etwa die Mensch-Maschine Kollaboration verändern die Rollen und Aufgaben der Fach- und Führungskräfte in der Fabrik.

Dabei geht es zum einen um neue Anforderungen an die Mitarbeiterqualifikation sowie um neue Arbeits- und Kooperationsformen. Zum anderen verlangt ein so weitreichend verändertes Umfeld auch nach einem dazu passenden Führungsverständnis. Die Offenheit in der Zusammenarbeit sowie die Verfügbarkeit und Omnipräsenz der Information erlauben keine sozialen Strukturen, die auf Herrschaftswissen und rigidem Top-down-Management basieren. Stattdessen schaffen sie die Voraussetzungen, um neue, kooperative Organisationsformen und Führungsprinzipien, wie etwa „Servant Leadership“, zu realisieren. Eine Vielzahl solcher Ansätze, die teilweise vor Jahrzehnten konzipiert wurden, finden in der Fabrik der Zukunft endlich den Raum, um ihre Wirksamkeit tatsächlich zu entfalten. Zu einem so verstandenen Leadership gehören auch die Bereitschaft und Fähigkeit, neue Lernformen und Führungsmethoden frühzeitig zu erkennen und ihre Potenziale aktiv zu nutzen.

Und schließlich resultieren die skizzierten Entwicklungen auch darin, dass die Fabrik als sozialer Raum ihr Gesicht verändern kann – und muss. Industrielle Umgebungen werden sauberer und offener, sie nähern sich modernen Bürostrukturen an und bieten ein attraktives Arbeitsumfeld.

BAUSTEINE FÜR DIE FABRIK DER ZUKUNFT

Die beschriebenen Entwicklungen führen unmittelbar zu der zweiten eingangs gestellten Frage und definieren gewissermaßen die notwendigen Bausteine, um eine Fabrik der Zukunft erfolgreich zu realisieren. Diese Bausteine umfassend darzustellen würde den gegebenen Rahmen sprengen, weshalb im Folgenden lediglich die wesentlichen Aspekte angerissen werden sollen.

Gebäudearchitektur und Fabrikplanung

Die industrielle Fertigung der Zukunft unterscheidet sich in vielen Punkten grundsätzlich von den Prozessen und Strukturen in der klassischen Fabrik. Deshalb hat ihre Realisierung auch Konsequenzen für die Gebäudeplanung. Die notwendige Flexibilität erfordert leichte Umbaumöglichkeiten und einen modularen, auf den Wertstrom ausrichtbaren Fabrikaufbau. Das entsprechende multidirektionale und skalierbare Layout zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass lediglich Boden, Decke, Säulenraster und Wände fix gestaltet werden, während Maschinen, Arbeitsplätze und Medienversorgung beweglich bleiben. Zum anderen muss das Layout den Einsatz autonomer Transportsysteme ermöglichen (z.B. durch ausreichende Gangbreite, Kreuzungsgrößen), aufeinander abgestimmte, integrierte Sensorsysteme vorsehen und eine durchgängige Gebäudeautomatisierung erlauben (z.B. Klimatisierung, Beleuchtung).

IT-Infrastruktur und Cyber Security

Die innovativen Organisations-, Produktions- und Logistikkonzepte, die sich in der Fabrik der Zukunft realisieren lassen, setzen eine effiziente, skalierbare und sichere IT-Infrastruktur voraus. Das betrifft zum einen die konsequente Nutzung von Operational-Technology(OT)-Standards für Edge Devices oder Sensorik, von Funkstandards und Applikationen zur sicheren und effektiven Datenübertragung in unterschiedlichen Gegebenheiten sowie den Einsatz von Software- und Datenplattformen. Zum anderen muss die aufgebaute Architektur ressourceneffizient und flexibel auf sich verändernde Anforderungen reagieren können, etwa durch den Einsatz von Leitungen als Backbones zu Knoten- und Verteilpunkten. Diese Aspekte müssen bereits in die Gebäudeplanung integriert sein, um beispielsweise Funkschatten berücksichtigen zu können.

Die IT-Infrastrukturen müssen darüber hinaus über ein umfassendes und entwicklungsfähiges Sicherheitskonzept verfügen und nach Möglichkeit „secure by design“ sein. Dazu gehört auch eine Security Policy, die alle wichtigen Sicherheitsaspekte von Benchmarking über Assessment bis hin zu Penetration Tests umfasst sowie die Segmentierung von Netzwerken (z.B. Trennung von Office und Shopfloor) sicherstellt und Endpoint-Security-Konzepte für die Fernwartung oder die Authentifizierung berücksichtigt, die dem Stand der Technik entsprechen.

Datenmanagement

Im Hinblick auf das Datenmanagement in der Fabrik der Zukunft hat insbesondere der „Single Source of Truth“-Ansatz für Masterdaten und transaktionale Daten große Relevanz. Dabei bleiben die Daten nach Möglichkeit dort, wo sie entstehen, und werden nur bei Bedarf transferiert. Weitere zentrale Faktoren sind die medienbruchfreie horizontale und vertikale Integration der Datenströme, die Automatisierung von Datenprozessen oder die Schaffung von Voraussetzungen zur Einbindung in Wertschöpfungsnetzwerke und Open Data Ecosystems, wie bspw. Catena X. Insgesamt sind deshalb ein klares Zielbild im Hinblick auf das Datenmanagement und eine daraus abgeleitete Gestaltung der Datenarchitektur wesentlich für den späteren Erfolg einer Future Factory – und müssen sehr früh in der Konzeptionsphase berücksichtigt werden.

Maschinen und Fertigungssysteme

Die Realisierung kleinerer und flexibler Fabriken innerhalb eines integrierten Fabriknetzwerks erfordert auch entsprechende Anlagen, die in Abhängigkeit von den eingangs erwähnten Fabriktypen und Kriteriensets unterschiedlich dimensioniert sein können. Das Spektrum reicht von hochspezialisierten Produktionskonzepten bis hin zu Basis-Anlagen-Module, die auf verschiedene Prozesse angepasst werden können und verstärkt auf Low-Cost-Automation-Ansätze zurückgreifen.

Weitere wichtige Anforderungen in der Fabrik der Zukunft bestehen darüber hinaus im Einsatz konnektierungsfähiger Maschinen sowie in der Nutzung von Standards für die Maschineneinbindung. Dadurch können Maschinenparks vernetzt werden, was wesentliche Vorteile im Hinblick auf die Effizienzsteigerung, die Optimierung der Auslastung und die Herstellung umfassender Transparenz über alle Fertigungsprozesse bietet.

Robotik und Automatisierung

Entwicklungen in der Robotik gehen verstärkt in Richtung Commodisierung. Dadurch können immer mehr standardisierte Lösungsbausteine genutzt und Applikationen schnell und kostengünstig realisiert werden. In diesem Bereich existieren inzwischen hochspannende Lösungen.

So ermöglichen etwa „Soft Bubble Gripper“ flexibelste Handhabungsoptionen; mit LiDAR-Technologie (Light Detection and Ranging) ausgerüstete Roboter können virtuos in anspruchsvollen Umgebungen navigieren und Umgebungsinformationen sammeln; Drohnen unterstützen die Inventur und Instandhaltung oder sogar komplexe vertikale Transportvorgänge. Und auch in der Robotik könnte die Verbreitung von Quantum Computing perspektivisch zum Game Changer werden und die Leistungsfähigkeit der Systeme drastisch steigern.

Logistik

Die Logistik bildet schon lange einen der Schwerpunkte in der Auseinandersetzung mit Future-Factory-Konzepten. Dabei existieren unterschiedliche Stoßrichtungen, die stark vom jeweiligen Fabriktyp abhängen. So spielen selbstnavigierende Produkte, die sich ihren Weg durch die Produktion selbst suchen, eine wichtige Rolle vor allem bei variantenreichen Kleinserien. Eine hohe Relevanz haben produktionstypenübergreifend autonome Transportlösungen, die von automatisierten Routenzügen über RTLS (Realtime Tracking and Localization Systems) bis hin zu Geofencing reichen und eine nahezu hundertprozentige Transparenz ermöglichen. Weitere Entwicklungen mit großem Potenzial ergeben sich bei skalierbaren und autonomen Kommissionier- und Lagerlösungen, die völlig neue Lagergeometrien mit verdichteten horizontalen und vertikalen Strukturen erlauben.

Planung und Steuerung

Planungs- und Steuerungsprozesse – von S&OP über den Shopfloor bis hin zu einzelnen Werkzeugen und Betriebsmitteln – lassen sich heute weitreichend automatisieren und digitalisieren. Das geht bis hin zur teilweise autonomen Anpassung. Um mit der Umfelddynamik Schritt zu halten, dürfen diese Aufgaben nicht mehr zyklisch konzipiert werden, sondern als kontinuierlicher Prozess. Dabei werden unter dem Einsatz von KI die Prozesse permanent simuliert. Es existieren inzwischen zahlreiche Lösungen – etwa für Process Mining in der Informationsflussoptimierung –, deren Einsatz kein tiefes Softwarewissen erfordert und die in praktisch jeder Future Factory implementiert werden können.

Digital Twins

Digitale Zwillinge lassen sich nicht nur von Produkten, sondern auch von Gebäuden, Fabriken und Produktionsprozessen entwickeln. Sie ermöglichen die Überwachung in Echtzeit, die realitätsnahe Simulation und Validierung und sind damit die Grundlage für eine flexible und effiziente Produktion. So können etwa in der Überwachung von Qualität und Produktionsprozessen einzelne Prozess- und Maschinenparameter (z.B. bei Verschraubungsvorgängen) autonom und in Echtzeit angepasst werden. Basis hierfür ist die permanente Erfassung relevanter Daten, die von KI-Modellen analysiert werden.

Unterstützung der Mitarbeiter

Das vielleicht wichtigste Merkmal der Fabrik der Zukunft ist jedoch die intensive Unterstützung der Mitarbeiter auf unterschiedlichsten Ebenen. Das betrifft zum einen die physische Entlastung, etwa durch den Einsatz von Assistenzsystemen, die Erleichterung bei körperlichen Arbeiten oder die automatische Konfiguration des Arbeitsplatzes nach User-Profilen.

Zum anderen erfolgt die Unterstützung durch eine bessere Verfügbarkeit von Wissen, bspw. durch die kontextualisierte Bereitstellung von Informationen, den Einsatz von KI-/ML-Algorithmen zur Analyse von Prozessparametern und die Übermittlung relevanter Ergebnisse direkt an die Mitarbeiter, die Nutzung von Werkerleitsystemen und Digital-Shopfloor-Management-Lösungen.

Und schließlich führen die hohen Anforderungen an die Flexibilität dazu, dass sich Aufgaben schnell ändern können, wodurch Wissen über Maschinen und Arbeitsplätze ebenfalls schnell und effektiv vermittelt werden muss. Dieser Herausforderung muss in der Fabrik der Zukunft auf mehreren Ebenen begegnet werden – etwa durch KI-gestütztes Immersive oder Blended Learning, Remote Support in den Arbeitsprozessen und virtuelles Onboarding vor dem Einlernen in die tatsächlichen Prozesse.

DIE 360-GRAD-PERSPEKTIVE AUF DIE FABRIK DER ZUKUNFT

Die skizzierten Entwicklungen zeigen, dass sich die eingangs gestellten Fragen bejahen lassen. Trotz der großen Vielfalt, die die praktische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Future Factory prägt, existieren Rahmenbedingungen und Trends, die jedes ambitionierte Projekt berücksichtigen muss. Die Lösungen werden – ebenso wie die Gewichtung und Ausgestaltung genereller Bausteine – unterschiedlich ausfallen. Dafür, dass sie gefunden und nachhaltig realisiert werden, braucht es eine ganzheitliche Perspektive auf das Thema. Und eine strategische Roadmap, die keinen wesentlichen Aspekt ausblendet.