Kapitel 6

Harsewinkel, Deutschland

Scholle 4.0

Genau 15 Stunden haben wir gebraucht, um von San Francisco nach Düsseldorf zu fliegen und mit dem Wagen nach Harsewinkel zu fahren. Die Stadt an der Ems ist eine „One Industry City“ – seit fast hundert Jahren dominiert der Landmaschinenhersteller CLAAS die lokale Wirtschaft, so sehr, dass es in der Stadt jahrelang hitzige Diskussionen darüber gab, ob man sich den Beinamen „Mähdrescherstadt“ geben will. Auch wir wollen zu CLAAS. Denn das Unternehmen gehört zu den fortschrittlichsten und innovativsten Akteuren in der globalen Smart Products Economy.

Überhaupt hat sich die Landwirtschaft weltweit zu einem Sektor entwickelt, der besonders schnell, mutig und konsequent den Weg in die Digitalisierung beschreitet. Neben CLAAS gehören auch Giganten wie John Deere und Bayer Crop Science oder hochspezialisierte Technologieschmieden und BioTech-Start-ups zu dieser Bewegung. Erstaunlich ist das nicht – denn in kaum einer anderen Branche herrschen eine so enorme Komplexität und ein so hoher Wettbewerbsdruck wie in der Landwirtschaft. Technische, biologische, topografische, meteorologische und chemische Themenstellungen verbinden sich mit Fragen der Organisation, Prozessgestaltung und des Kosten- und Qualitätsmanagements. Eine effiziente und gleichzeitig nachhaltige Landwirtschaft für das 21. Jahrhundert aufzubauen, ist ein gewaltiges Projekt, das ohne die Digitalisierung nicht erfolgreich sein kann.

Die Arbeit der CLAAS KGaA mbH in diesem Bereich wird von der Überzeugung geleitet, dass der Ertrag der Agrarproduktion sich durch die Einführung intelligenter, vor allem aber vernetzter Systeme in den nächsten 30 Jahren genauso dramatisch steigern lässt, wie durch die Mechanisierung in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. CLAAS verfügt heute über eine Vielzahl intelligenter Systeme, um landwirtschaftliche Abläufe durch digitale Tools zu verbessern. Dabei geht das Unternehmen davon aus, dass es vier Elemente sind, die das Fundament der Digitalisierung in der Landwirtschaft bilden: Global Positioning Systems (GPS), Digitale Datenverarbeitung, Sensorik und Kamerasysteme sowie Kommunikationssysteme.

Die Basis bildet ein mechanisches System – ein Mähdrescher oder eine andere Landmaschine – das zu einem Smart Product weiterentwickelt und in ein digitales Gesamtsystem eingebunden wird. Die Vernetzung von Fahrzeugen entlang einer Prozesskette führt zu höherer Auslastung der eingesetzten Einheiten, einer effizienteren Nutzung und damit auch zu entsprechenden Kostenvorteilen.

Wie das im Einzelnen funktioniert, lässt sich am Beispiel des landwirtschaftlichen Kernprozesses Ernte demonstrieren. Ein zentrales Element dieser vernetzten Architektur ist die telemetrische Lösung „Fleet View“, die in den CLAAS-Maschinen installiert ist. Damit können alle am Ernteprozess Beteiligten in Echtzeit sehen, wer wo und wann ist bzw. sein sollte. Das führt dazu, dass Mähdrescher ohne prozessbedingte Pausen ernten und maximal effizient eingesetzt werden können.

Doch die Koordination der Fahrzeuge über eine umfassende Telemetrielösung ist höchstens ein Element der digitalen Vision, die CLAAS als „Farming 4.0“ bezeichnet. Die intelligenten Landmaschinen werden auch dazu eingesetzt, mit einer Vielzahl von Sensoren umfassende Umwelt- und Ertragsdaten (bis hin zu GPS-basierten Bodenprobennahmen) zu sammeln und in die „Farm Cloud“ zu übertragen, wo sie konsolidiert und bearbeitet werden.

Im Ergebnis entsteht eine georeferenzierte, vollständige Ertrags- und Potenzialkarte, ein perfektes digitales Abbild des Feldes, das Auskunft über die GPS-Position der Fahrzeuge, den Ertrag und die Feuchte gibt. Die laufend aktualisierte Karte erlaubt eine präzise teilflächenspezifische Bewirtschaftung – etwa das Ausbringen von Düngemitteln, Bewässerung, Aussaat oder die Wahl des Erntezeitpunktes. Natürlich bildet das lückenlose Tracking der mit Intelligenz ausgestatteten Fahrzeuge auch die Basis für ein hocheffizientes technisches und betriebswirtschaftliches Flottenmanagement: von der vorsorglichen Wartung über eine optimierte Einsatzplanung und Abrechnung bis hin zu massiven Treibstoffeinsparungen. Ein weiterer Faktor ist die Bodenschonung dank „Controlled Trafic“, bei dem Fahrzeuge punktgenau durch GPS gelenkt werden und so die Fahrspuren auf dem Feld minimieren. Und nicht zuletzt ist das System offen für künftige Smart Products. Ob Aussaatroboter und Überwachungsdrohnen, autonome Landmaschinen und Machine Learning-Systeme – sie alle können künftig in das Netzwerk integriert und mit den anderen Smart Products vernetzt werden.

Unsere Reiseskizze gibt die Farming 4.0-Vision von CLAAS nur sehr unvollständig wider. Die Aufzählung der Möglichkeiten, die ein umfassendes Smart Products Network in der Landwirtschaft bietet, könnte man noch lange fortsetzen. Doch es stellt sich noch eine andere, wesentlich weiter reichende Frage. Weltweit wird die globale Landwirtschaft zunehmend kritisch gesehen. Die wachsende Monopolisierung und Konzentration, das schleichende Verschwinden regionaler Versorger, mangelhafte Qualitätskontrollen der internationalen Lieferketten, die Zerstörung der Böden und der Fruchtvielfalt durch Monokulturen, die Belastung durch Pestizide, der dramatische Verlust an Biodiversität – man muss kein Ökofanatiker sein, um diese Entwicklung mit Unbehagen zu betrachten. Die Food and Agricultural Organisation (FAO) der UNO warnt seit Jahren vor der sich immer stärker öffnenden Schere zwischen dem wachsenden Bedarf an Lebensmitteln und schweren strukturellen Missständen in der globalen Landwirtschaft.

Die Digitalisierung könnte die bereits einsetzende Wende massiv beschleunigen. Der enorme Effizienzschub, den Smart Products versprechen, könnte die unselige Gleichung, nach der Gewinne auf dem Feld letztlich nur durch Betriebsgröße, Standardisierung, Monokulturen und chemische Hilfsmittel und damit letztlich auf Kosten der Nachhaltigkeit gesichert werden können, aushebeln. Das wäre eine digitale Revolution, die den Namen wirklich verdient. Wir lassen Harsewinkel hinter uns und nehmen Kurs auf Süddeutschland.