„Low-Code kann ein Unternehmen sehr viel schneller machen.“

Interview mit Florian Rühl

 

DIALOG: Herr Rühl, seit Forrester den Begriff „Low-Code“ prägte, hat der Ansatz schnell an Popularität gewonnen. Simplifier war schon vorher auf dem Markt. Was ist Low-Code und was macht die Entwicklung attraktiv?

FR: Wir sind mit unserer Plattform ungefähr zur gleichen Zeit gestartet – und haben uns mit dem Begriff „Low-Code“ sehr wohlgefühlt. Allerdings muss man heute sehr klar unterscheiden, was wirklich eine Low-Code-Plattform ist und was schlicht die Verwendung eines Hype-Begriffs. Bei Low-Code geht es nicht einfach darum, einzelne Felder zu konfigurieren oder Workflows aufzubauen: Eine Low-Code Plattform leistet deutlich mehr.

Welchen Vorteil Low-Code bringt, zeigt sich am Vergleich mit herkömmlicher Softwareentwicklung. Dort wird der Quellcode einer Applikation mit einer bestimmten Programmiersprache erstellt. Dafür braucht es Experten, die diese Programmiersprachen beherrschen. Doch bei diesen Experten herrscht im Markt ein dramatischer Mangel, der täglich zunimmt. Dadurch kommt es bei der Softwareentwicklung zu langen Projektlaufzeiten und hohen Kosten.

Vor diesem Hintergrund kann Low-Code seine Vorteile ausspielen. Denn dabei wird der Source Code eben nicht Zeile für Zeile erzeugt, sondern über die Verwendung vorgefertigter Elemente zusammengestellt, die in der Plattform mitgeliefert werden. Das gilt nicht nur für die Erstellung der Benutzeroberfläche, sondern auch für die Applikationslogik und die Integration in eine bestehende Systemlandschaft. Die Entwicklung erfolgt dabei unabhängig von dem darunter liegenden System oder Use Case. Kurz gesagt: Low-Code ermöglicht eine grundlegende Anwendungsentwicklung über grafische Oberflächen. Dieser Ansatz eröffnet darüber hinaus auch die Möglichkeit, Menschen außerhalb der IT, der klassischen Entwicklerteams zu befähigen, Applikationen mit Low-Code zu erstellen.

Wenn Unternehmen also Low-Code einführen, geht es darum, effizienter und schneller zu werden, fachliche Anforderungen zügig in Software zu übersetzen und enger zusammenzuarbeiten, als das heute der Fall ist. Wir sehen Low-Code deshalb auch als Brückentechnologie, die Fachbereich und IT-Experten an einen Tisch bringt und die gemeinsame, konfigurative Erstellung notwendiger Anwendungen ermöglicht.

 

DIALOG: Wie sehen Sie den Unterschied zwischen Low-Code und No-Code?

FR: Im Prinzip versprechen No-Code-Plattformen, dass jeder Anwender auch ohne jegliche technologische Skills Applikationen erstellen kann. Wir sehen das Thema jedoch kritisch – gerade im industriellen Kontext. Denn typischerweise sind Anwendungen, die in No-Code-Plattformen aufgebaut werden, nicht in die bestehende Systemlandschaft integrierbar. Wenn man bspw. schlicht ein Formular erstellen möchte, kann No-Code ein interessanter Ansatz sein. Low-Code erweitert die Möglichkeiten aber signifikant, da bei Bedarf eine Individualprogrammierung vorgenommen werden kann. So werden hochkomplexe und einfache Nutzungsszenarios gleichermaßen abgedeckt.

 

DIALOG: Sie sehen die Grenzen von No-Code im komplexen Enterprise-Umfeld?

FR: Ja. Wenn es um Enterprise-Anwendungen geht, braucht es eine tiefe, nahtlose Integration. Die Applikationen müssen sicher auf allen relevanten Endgeräten laufen. Low-Code-Plattformen müssen deshalb auch für individuelle Code-Ergänzungen bzw. Erweiterungen offen sein. Insbesondere im Kontext von Industrie 4.0 nutzen Unternehmen eine Vielzahl von Systemen und Datenquellen wie etwa das Enterprise Ressource Planning (ERP), das Customer Relationship Management (CRM), das Manufacturing Execution System (MES), Maschinendaten und sehr spezifische Schnittstellen, die eine hochprofessionelle Programmierung erfordern. Das ist nichts, was eine Fachabteilung umsetzt. Ablösen kann man diese Systeme aber auch nicht – dafür sind sie zu komplex, zu wichtig, die Investitionen dafür wären extrem hoch und die Zeitverluste einfach nicht vertretbar. Die Fähigkeit, die auf einer Low-Code-Plattform aufgebauten Applikationen in diese vorhandenen Strukturen zu integrieren, ist also ein absolutes Muss – ein zentraler Baustein der Enterprise-App-Erstellung.

 

DIALOG: Gibt es auch organisatorische Voraussetzungen für den Erfolg von Low-Code-Plattformen?

FR: Hier gilt der Grundsatz „People – Process – Technology“. Eine Low-Code-Plattform ist erstmal nur eine Technologie. Für den erfolgreichen Einsatz von Low-Code, ist es notwendig zu wissen, welche Kompetenzen und Fähigkeiten die Menschen bereits haben, die mit dem Tool arbeiten sollen, und welche sie noch zusätzlich aufbauen müssen. Zusätzlich stellt sich die Frage: Sind bereits moderne Prozesse etabliert? Wird schon agil gearbeitet oder sind Lastenhefte immer noch der Stand der Dinge?

Low-Code-Plattformen fördern häufig neue digitale Geschäftsmodelle und Services, denn sie unterstützen sehr effektiv dabei, die Time-to-Market zu verkürzen und mit geringerem Ressourceneinsatz schnell auf Änderungen zu reagieren. Sie können diese Wirkung aber nur entfalten, wenn sie auf effiziente und agile Prozesse aufsetzen. Nicht zuletzt geht es jedoch auch um das Mindset in der IT. Da herrscht teils noch die Auffassung, dass alles individuell und von Null aufgebaut werden muss. Dieses Mindset muss sich weiterentwickeln, damit der Low-Code-Ansatz überhaupt funktionieren kann.

DIALOG: Verändert sich dabei auch die Rolle der IT im Unternehmen?

FR: Davon bin ich überzeugt. Was aber keinesfalls bedeutet, dass die Hoheit über die Applikationen in die Fachbereiche wandert – im Gegenteil. Die Kontrolle über die eingesetzten Plattformen, die Governance, muss trotzdem weiter in der IT liegen. Sie muss dafür Sorge tragen, dass es keinen Wildwuchs gibt, dass bereichsübergreifend Best Practices genutzt werden, dass Wissen und bereits entwickelte Module wiederverwendet werden. Oder die IT muss auch dafür sorgen, bestehenden Wildwuchs einzugrenzen, um dann nach der Konsolidierung zukunftsfähige und effektive Technologiestandards zu setzen. Unsere Plattform kommt ziemlich oft in solchen Projekten zum Einsatz.

Gleichzeitig wandelt sich die Rolle der IT vom Dienstleister der Fachabteilungen zum Innovator. Sie stellt Technologien zur Verfügung und befähigt Menschen im Unternehmen, damit umzugehen. Ganz konkret: Das Konzept Citizen Development erfordert ein intensives Engagement seitens der IT. In diese Rolle muss die IT sich jedoch erst einfinden und die neuen Aufgaben annehmen. Das passiert nicht von heute auf morgen.

Neben der IT-Abteilung verändert sich natürlich auch das Ökosystem externer Dienstleister: Der Bedarf an externen Ressourcen sinkt zwar, aber sie kommen gezielt für hochkomplexe und kritische Prozesse zum Einsatz. Diese Entwicklung korrespondiert auch mit dem Mind Change der großen Softwarehäuser. Diese konzentrieren sich zunehmend auf ihre Kernbereiche. Individualisierungen erfolgt hingegen durch anschlussfähige Systeme wie Low-Code-Plattformen.

 

DIALOG: Digitale Souveränität wird zu einem zunehmend wichtigen Faktor für die Zusammenarbeit mit Softwareanbietern – sowohl im öffentlichen Sektor als auch in der Industrie. Begegnet Ihnen das Thema auch im Hinblick auf Low-Code?

FR: Ja, das ist ein essenzielles Thema und ein sehr wichtiges Entscheidungskriterium für unsere Kunden. Stichwort: Sourcecode Ownership. Wir setzen hier auf Open Source. Unsere Kunden können deshalb die mit uns entwickelten Applikationen auch abseits unserer Plattform weiternutzen. Es sind lediglich geringe Anpassungen im Code notwendig. Aber auch die Ownership der aufgebauten Prozesse ist relevant. Letztlich ist das eine Philosophiefrage der Plattformhersteller.

 

DIALOG: Die Low-Code-Plattform von Simplifier ist nun seit gut fünf Jahren auf dem Markt. Was ist Ihre Vision für die nächsten fünf Jahre?

FR: Wir sehen uns als europäischer Low-Code-Marktführer, insbesondere für die produzierende Industrie und komplexe Enterprise-Bereiche, die integrierte Business-Applikationen brauchen. Gleichzeitig arbeiten wir auch daran, jenseits von Europa in den wichtigen Märkten präsent zu sein. Hierzu gibt es bereits erste Erfahrungen mit Kunden, die unsere Plattform global einsetzen.

Herr Rühl, auf diesem Weg wünschen wir Ihnen viel Erfolg und bedanken uns für das Gespräch!