Jenseits von Perfektion und ,Fire Fighting‘

Warum wir ein neues Verständnis von Qualität brauchen

Der Mythos wurde vor 450 Jahren auf der Piazza San Domenico im oberitalienischen Cremona geboren. Dort, inmitten lombardischer Prachtbauten, im Windschatten von Padua und Mailand, soll Antonio Stradivari seine besten und berühmtesten Violinen, Bratschen und Violoncelli angefertigt haben. Instrumente, die über Jahrhunderte geliebt, verehrt, gehütet und in seltenen Fällen für Millionen verkauft werden. Instrumente, die in ihrer Schönheit und in ihrem Klang unübertroffen sind, von einer nie wieder erreichten Perfektion. Manche sagen noch heute, dass bei ihrem Bau nicht allein menschliche Hände am Werk waren. Stradivaris Instrumente sind der Inbegriff des menschlichen Schaffens, der maximalen, ultimativen Qualität. 
Oder besser: Sie waren es. Denn seit einigen Jahren wird an der Demontage des Mythos gearbeitet. Einer der ersten und besonders öffentlichkeitswirksamen Angriffe kam ausgerechnet aus Deutschland. „Print me a Stradivarius“, überschrieb das englische Magazin ‚Economist‘ Anfang 2011 ein Titelbild, auf dem eine aus unauffällig grauem Material gefertigte Violine zu sehen war. Der Geigenbauer war das Münchner Unternehmen EOS, einer der Pioniere des 3D-Drucks. Die spektakuläre Präzision der neuen Technologie – so die Botschaft des Beitrags – würde in wenigen Jahren die Welt verändern und perfekte Qualität zu einem Bruchteil der Kosten einer handwerklichen Meisterleistung ermöglichen. Ende 2011 testete das angesehene amerikanische Wissenschaftsmagazin PNAS das Klangbild der Stradivari gegen moderne Geigen – die den Vergleich souverän gewannen. Genau 400 Jahre, nachdem Stradivari seine berühmte Violine ‚Lady Inchiquin‘ baute. So groß war die Macht des Mythos, dass in all den Jahrhunderten keiner auch nur auf die Idee kam, die Qualität unter wissenschaftlichen Bedingungen zu testen, bemerkte der Versuchsleiter. Ob er einige Monate früher den ‚Economist‘ gelesen hat, ist nicht bekannt.

‚Zero Defect‘ als Markenkern

Qualität ist auch heute mehr als die Summe nüchterner Indikatoren und Messwerte. Gerade in den deutschsprachigen Ländern ist sie der Kern der meisten global erfolgreichen Marken, zentrale Dimension der Positionierung, Basis einer Preisstrategie, die ein Überleben der Hochlohnländer im globalen Wettbewerb gewährleisten soll. ‚Zero Defect‘ ist in den letzten Jahren zu einem Standard-Begriff geworden, der für die meisten Unternehmen nicht verhandelbar ist. Die Ingenieurskunst – im Selbstverständnis ihrer Träger hat sie noch sehr viel mit der Manufaktur aus Cremona gemeinsam. 
Über Jahrzehnte war es der Erfolg, der einer kompromisslosen Qualitätsstrategie, der Jagd nach der Perfektion, Recht gegeben hat. So wie Stradivari 400 Jahre lang Recht hatte. Doch die Sicherung und Aufrechterhaltung der Qualität wird zunehmend zu einer prekären Aufgabe. Dafür gibt es mehrere Gründe.

„‚Zero Defect‘ ist zu einem Standard-Begriff geworden, der für die meisten Unternehmen nicht verhandelbar ist.“

Qualität unter Druck

Die Lebenszyklen der meisten Produkte verkürzen sich dramatisch – was sowohl B2B- als auch B2C-Märkte tiefgreifend verändert. Entwicklung, Industrialisierung und Produktion müssen deshalb unter einem enormen Zeitdruck erfolgen, der die Spielräume für die Optimierung der Qualität einschränkt. Gleichzeitig steigt auch die Komplexität – nicht zuletzt durch die Verschmelzung physischer und digitaler Bestandteile und Systeme. Diese Entwicklung resultiert in rapide steigenden Qualitätskosten – durch eine unzureichende Qualitätsvorausplanung, höhere Aufwendungen für Tests oder Folgekosten für Qualitätsfehler. So wurden in Deutschland im vergangenen Jahr allein in der Automobilindustrie mehr als eine dreiviertel Million Fahrzeuge zurück in die Werkstätten gerufen. Wir brauchen deshalb zwingend Methoden, die für eine geringe Fehler- und Mängelanfälligkeit des späteren Produkts sorgen. Einen Ansatz hierfür bildet beispielsweise ‚Robust Design‘. Dieses zielt darauf ab, die Auswirkungen von Faktoren wie Materialeigenschaften, Prozessparameter, Umwelteinflüsse oder Abweichungen in der Konstruktion der Produkte zu analysieren und zu beherrschen. Außerdem geht es darum, deren Wechselwirkungen zu verstehen und sogar kostensparend auszunutzen.

Qualitätsmanagement als Kernfunktion 

Darüber hinaus steht das bislang vorherrschende Qualitätsverständnis zur Disposition. Qualität wird heute zumeist über zwei Dimensionen gefasst: Sie ist zum einen die beherrschende Nebenbedingung jeder Produktion, wenn nicht gar ihr Meta-Ziel. Andererseits ist Qualität vor allem auch ‚Fire Fighting‘. Als Funktion kommt Qualitätsmanagement dann zum Einsatz, wenn Normanforderungen nicht erfüllt werden oder es buchstäblich brennt. Eine vorausschauende und methodisch fundierte Koordination der vielfältigen Systeme, Prozesse und Teams im Unternehmen ist dabei die Ausnahme. Immer stärker zeigt sich jedoch, dass eine signifikante Kosten- und Fehlerreduktion erst möglich wird, wenn ein Qualitätsmanagementsystem auf jeder Stufe des Wertschöpfungsprozesses verhindern kann, dass fehlerhafte Produkte geplant, entwickelt und intern oder zum Kunden weitergereicht werden. Aus dieser Perspektive ist Qualität vor allem eine Unternehmensfunktion und ein Managementprinzip, das sich auf operative Exzellenz und einen breiten Mix an standardisierten Tools und Methoden stützt.

Wieviel Qualität ist nötig?

Zudem stellt sich heute die Frage, wieviel Qualität wo und wann tatsächlich nötig ist. Gerade global agierende Unternehmen sind in unterschiedlichen Märkten sowohl mit unterschiedlichen Qualitätserwartungen und verbindlichen Qualitätsnormen konfrontiert als auch mit jeweils unterschiedlichen tradeoffs zwischen Qualität und Preis. Diese müssen vor allem in der Lokalisierung der Produkte, aber auch bei der Entwicklung und Positionierung von Sub-Marken und Servicemodellen berücksichtigt werden. Zentral ist dabei die Frage, welche Qualitätsmerkmale tatsächlich nicht verhandelbar sind und auf welche zugunsten einer auch aus Kundensicht angemessenen Preisrelation verzichtet werden kann. Dies betrifft im Übrigen nicht nur die Märkte in Asien, Afrika oder Südamerika. Auch in den westeuropäischen Märkten zahlt sich Overengineering – eine Perfektion, der kein Mehrwertempfinden der Kunden entgegensteht – nicht mehr aus, wie der Niedergang vieler Traditionsmarken zeigt.

Mut zur Beta-Version

Und schließlich verändert sich in den letzten Jahren auch das Verhältnis zwischen Qualität und Innovation: In vielen Industrien ist es heute wichtiger, Innovationen frühzeitig in den Markt und zu den Kunden zu bringen, als im Dienste der Qualität und Perfektion auch noch am letzten Quäntchen zu feilen. Bereits heute sind Ansätze wie ‚Open Innovation‘, ‚Crowd R&D‘ oder ‚Crowd Testing‘ Realität. Sie setzen auf die Bereitschaft der Kunden, sich an den Entwicklungs- und Versuchsprozessen zu beteiligen und so gemeinsam die Qualität der Produkte laufend zu optimieren – und haben damit zunehmend Erfolg. Zugegeben: jeder von uns zöge eine Violine aus der Werkstatt Stradivaris der aus Polymer gedruckten Fidel vor. Die Frage ist allerdings, ob wir das auch um den Preis des eigenen Überlebens tun würden.

„Auch in den westeuropäischen Märkten zahlt sich Overengineering – eine Perfektion, der kein Mehrwertempfinden der Kunden entgegensteht – nicht mehr aus.“