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Lean und ERP: Die Quadratur des Kreises?
Wissen Sie, was ein Pushmi-Pullyu ist? Nein, es ist kein neuer Begriff aus dem Toyota-Lexikon, sondern ein zweiköpfiges Gazellen-Einhorn-Hybrid, wobei sich die beiden Köpfe dummerweise an entgegengesetzten Körperenden befinden. Der Pushmi-Pullyu muss,
um nicht völlig aus der Spur zu geraten und an Selbstblockade zu sterben, Strategien für den Umgang mit dem prinzipiellen Widerspruch entwickeln, der in seine Natur eingeschrieben ist. Er löst dieses Problem, indem er auf Arbeitsteilung setzt – es ist immer ein Kopf, der spricht, während sich der andere dem Fressen widmet, was den Pushmi-Pullyu zu einem sehr effektiven Tier macht. Einfach ist es allerdings nicht – denn der Pushmi-Pullyu ist auch eine etwas mürrische Gestalt, wenn man seinem Entdecker, dem englischen Kinderbuchautor Hugh Lofting, glauben darf.
Vermutlich gibt es keine bessere Analogie für das komplizierte Miteinander von Lean und ERP. In der Praxis existieren die beiden Welten fast immer aneinander vorbei: Lean-Experten wenden ihre Prinzipien kaum auf ERP-Systeme an und beziehen diese so gut wie nie in ihre Lösungsansätze mit ein, denn zu groß scheinen die Widersprüche. So steht dem für ERP zentralen Ziel, die Kapazitätsauslastung zu maximieren und die Kosten zu minimieren, die synchrone Produktion im Kundentakt und die Eliminierung von Verschwendung gegenüber, die allen Lean-Ansätzen gemeinsam ist. Das in der Lean-Welt konsequent angewendete Fluss- bzw. Pull-Prinzip lässt sich kaum mit auftragsbasierten Push-Systemen in Einklang bringen.
Und schließlich besteht ein fundamentaler Unterschied der beiden Ansätze im Umgang mit Komplexität: Während Lean, ein vorwiegend visueller Ansatz, auf konsequente Vereinfachung und Komplexitätsreduzierung setzt und häufig ohne IT-Unterstützung umsetzbar ist, ist in der digitalen ERP-Welt das Management der Komplexität wesentlich wichtiger als ihre Reduktion.
Wenig überraschend ist deshalb, dass das gemeinsame Ziel beider Ansätze, die Schaffung einer transparenten, effizienten und planbaren Produktion, in den letzten Jahren häufig auf völlig unterschiedlichen Wegen angegangen wurde. Dabei schoss man, gerade aus der IT kommend, mit schweren Waffen. Durch die Nutzung umfassender, zentraler Planungstools (Advanced Planning Systems) mit finiter Kapazitätsplanung und dem Versuch, auf Basis mathematischer Optimierungsalgorithmen jeden Produktionsschritt im Detail zu planen, wollte man dem Ideal der perfekt funktionierenden Fabrik näher kommen. Online-Qualitäts- und Produktionsfortschrittsdaten, direkte Informationen über Verfügbarkeiten der Maschinen und Störungsursachen, Nachkalkulation pro Produktionsauftrag auf Knopfdruck sollten die Abläufe in den Werken effizient und transparent gestalten.
Doch der Versuch, instabile und zu komplexe Prozesse mit noch komplexeren IT-Systemen zu beherrschen, scheiterte meist in der Praxis und wird auch im Zeitalter der Industrie 4.0 weiterhin scheitern. Zunehmend setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass als erster Schritt immer eine Verringerung der Komplexität des Produktionssystems angestrebt werden muss – etwa durch Maßnahmen wie Segmentierung, Flussorientierung, Austaktung und Pull-Steuerung. Aufbauend auf diesem vereinfachten, verbesserten und robusteren Prozess lässt sich die IT sinnvoll einsetzen und ihr Nutzen voll ausspielen.
„Der Versuch, instabile und zu komplexe Prozesse mit noch komplexeren IT-Systemen zu beherrschen, wird auch im Zeitalter der Industrie 4.0 scheitern.“
Im besten Fall steht das im Einklang mit einer Kaskade weiterer angewandter Lean ERP-Prinzipien, die gleich in mehreren Feldern strukturiert für Verbesserungen sorgen (siehe Grafik). Neben der Faustregel „Lean- Steuerung wo möglich, Push-Steuerung wo notwendig“ spielt hier der anwenderorientierte IT-Einsatz eine wichtige Rolle. Denn viele Kosten- und Komplexitätsdimensionen lassen sich noch immer durch einen „ausgebremsten Aktionismus“ präventiv vermeiden. Besser häufiger als selten IT-Neuinvestitionen aus der Perspektive der Zweck- und Zukunftsfähigkeit durchleuchten, anstatt – vom Veränderungs- und Machbarkeitsdruck getrieben – teure Fehlentscheidungen zu treffen. Wirklich nachhaltig ist der IT-Einsatz nur dann, wenn auch beim täglichen Umgang mit den IT-Systemen Lean Management praktiziert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Sicherstellen einer hohen Datenqualität durch die Anwendung von 5S.
Ein optimales Zusammenspiel zwischen Lean und ERP wird in der Praxis meist dann erreicht, wenn die Steuerung der Produktion als „ERP- arme Zone“ auf Basis von selbststeuernden Regelkreisen abgewickelt wird und sich die Schwerpunkte der IT-Unterstützung vor allem an den Grenzen des Produktionssystems bewegen. Etwa zur mittel- bzw. langfristigen Planung der Material- und Kapazitätsbedarfe sowie zur durchgängigen Integration von Kunden, Lieferanten und Partnerwerken. Zudem natürlich überall dort, wo die Transparenz der Mengen- und Werteflüsse und die Rückverfolgbarkeit einen IT-Einsatz zwingend erfordern.
„Das erfolgreiche Zusammenspiel von Lean und ERP erfordert vor allem das Ende der Glaubenskriege.“
Zur Beherrschung komplexer Systeme reicht Lean alleine nicht aus. Durch ERP Systeme gewonnene Daten bieten ein großes Potenzial, komplexe Systeme besser zu verstehen und damit besser zu beherrschen. Sie lassen sich einerseits dazu einsetzen, Prozesse in Echtzeit transparenter zu machen, Zusammenhänge zu verstehen und im Sinne einer gezielten Prozesssteuerung operativ einzugreifen. Andererseits ermöglichen es die Daten auch, ex post Muster bei Produktivitäts-, Qualitäts- und Lieferproblemen zu erkennen, woraus sich wirksame Gegenmaßnahmen ableiten lassen.
Das erfolgreiche Zusammenspiel von Lean und ERP erfordert vor allem das Ende der Glaubenskriege: Es setzt nicht voraus, dass ein Ansatz gewaltsam auf den anderen angepasst wird, sondern auf die intelligente Definition und Ausgestaltung der Einsatzbereiche sowie der technischen und prozessualen Schnittstellen. Will man sowohl ERP als auch Lean-Konzepte in der Produktion nutzen, lässt sich die Existenz eines Pushmi-Pullyu nicht vermeiden. Man kann aber dafür sorgen, dass seine besondere Beschaffenheit ein signifikanter Vorteil und kein Handicap ist.