DIE ‚MENSCH-MASCHINE-CO-EVOLUTION‘ IM BLICK

DIALOG: Herr Nottbohm, Ihr Werk in Chemnitz hat im Volkswagen-Konzern eine First-Mover-Funktion. Dazu gehört auch, die Chancen neuer technologischer Entwicklungen im Blick zu haben. Wie hoch schätzen Sie die noch nicht gehobenen Potenziale einer vernetzten, intelligenten Produktion für Ihre Fabrik?
HN: Wir haben bereits erste Bausteine der Handlungsfelder zu Industrie 4.0 umgesetzt. Daher bewegen wir uns bereits auf gutem Niveau und haben die richtigen Weichen gestellt. Das wiederum verleiht uns, neben anderen Alleinstellungsmerkmalen, unsere First-Mover-Rolle als weltweites Typführerwerk für die neue Otto-Motorengeneration von Volkswagen. Die Potenziale von Industrie 4.0 sind enorm, aber nicht genau prognostizierbar, da dies maßgeblich vom Grad der Vernetzung abhängig ist. Während wissenschaftliche Studien Potenziale von 50 Prozent bei Entwicklungszeiten, -kosten und Herstellkosten ausweisen, schätzen wir für die Fabrik als autarke Einheit moderatere, aber durchaus im zweistelligen Prozentbereich angesiedelte Potenziale. Anders sieht es bei einer globalen Betrachtung über das gesamte Produktionsnetzwerk, z.B. bei Volkswagen, aus. Hier erwarten wir von einer Vernetzung einen deutlich höheren Benefit durch Erhöhung der Kollaborationsfähigkeit.

DIALOG: Der Weg von einem erfolgreichen Prototyp hin zu einer wirtschaftlichen Serienfertigung ist lang. Wie beurteilen Sie aktuell den Reifegrad der Lösungsansätze, die unter dem Begriff Industrie 4.0 gehandelt werden? In welchen Teilbereichen der Automobilindustrie rechnen Sie zuerst mit einer Einführung und wo sehen Sie die größten Umsetzungshürden?
HN: Den Reifegrad für Teillösungen halte ich bereits für sehr gut, allerdings sehe ich Defizite bei der Vernetzung. Generell sind einige Ansätze, welche unter dem Begriff ‚Industrie 4.0‘ subsumiert werden, eher fragwürdig und es gilt zu verhindern, dass der Begriff inflationär benutzt und dadurch mit zunehmender Intransparenz belegt wird. Dies würde zu einer Verwässerung der Thematik führen und verhindert einen wirkungsvollen Know-how-Einsatz. Der Standort Chemnitz hat sich als Ziel gesetzt, in den nächsten fünf Jahren eine flächendeckende Umsetzung zu erreichen. Aus diesem Grund sind wir ein Forschungsprojekt mit mehreren Partnern eingegangen, z.B. der TU Chemnitz, Werkzeugmaschinenherstellern sowie weiteren assoziierten Partnern. Weitere Teilprojekte mit wissenschaftlichen Partnern und Firmen sind geplant. Die größte Herausforderung sehe ich in der nutzergerechten Aufbereitung der ‚Datenflut‘, um die Prozesse positiv beeinflussen zu können. Das heißt also, relevante Daten in Echtzeit verfügbar zu machen und IT und Infrastruktur als Serviceleistungen (‚Basis‘) zu optimieren. Für einen Weltkonzern bestehen auch Herausforderungen in der Harmonisierung und Synchronisierung von Systemen und Prozessen über die Standorte hinweg. Wichtige und schwierige Themen sind zudem die individualisierte Kapazitätsplanung und eine maßgeschneiderte Personalflexibilität für die Produktion; beide Themen haben wir aber bereits in den Blick genommen.

„Das Werk Chemnitz ist ‚auf Kurs‘ zur Smart Factory.“

DIALOG: Vor diesem Hintergrund: Ist das Motorenwerk Chemnitz bereits heute eine ‚Smart Factory‘? Mit welchem konkreten Beispiel können Sie das belegen?
HN: Auch an dieser Stelle möchte ich nochmals um Vorsicht bei den Begrifflichkeiten bitten und zunächst die Frage nach der Definition einer ‚Smart Factory‘ aufwerfen. Eine ‚Smart Factory‘ besitzt verschiedene Dimensionen, wie Smart Products, Smart Buildings, Smart Logistics, etc.. Somit wird unter ‚smart‘, erstens, eine horizontale Integration über Wertschöpfungsnetzwerke, zweitens, die digitale Durchgängigkeit des Engineerings über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg und, drittens, die vertikale Integration und vernetzte Produktionssysteme verstanden. Damit bleibe ich bei meiner Aussage, dass das Werk Chemnitz ‚auf Kurs‘ zur Smart Factory ist, was nicht bedeutet, dass bereits heute alle Facetten durchgängig abgebildet werden. Erste Ansatzpunkte am Standort Chemnitz, die die Fabrik bereits heute als punktuell ‚smart‘ erscheinen lassen, sind: durchgängige Planung der Prozesse mit den Tools der digitalen Fabrik (inkl. ergonomischen Optimierungswerkzeugen), Echtzeit-Monitoring der Fertigungsanlagen sowie die Verfügbarkeit von Fertigungsdaten je Motor und Komponente über alle Fertigungsprozesse.

DIALOG: Eine umweltschonende und ressourceneffiziente Produktion wird nicht nur aus gesellschaftlichen, sondern immer stärker auch aus wirtschaftlichen Gründen zur Notwendigkeit für die Zukunftsfähigkeit einer Industrie. Im gesamten VW-Konzern – und besonders stark in Ihrem Werk in Chemnitz – wird intensiv an diesen Themen gearbeitet. Wo sehen Sie noch Verbesserungsmöglichkeiten und mit welcher Strategie wollen Sie diese umsetzen?
HN: Bereits frühzeitig erfolgte seitens unseres Unternehmens im Rahmen unserer Strategie ‚Think Blue.‘ eine starke Fokussierung auf Ressourcen- und Energieeffizienz. Bemerkenswert ist dabei, dass sich diese Anstrengungen nicht nur auf unsere umweltschonenden und verbrauchsarmen Produkte beschränken, sondern wir ganz gezielt auch die Standorte im Fokus haben. ‚Think Blue. Factory.‘ heißt das Programm von Volkswagen, mit dem Umweltbelastungen in der Produktion nachhaltig und kontinuierlich gesenkt werden. Mit ‚Think Blue. Factory.‘ übernehmen wir ökologische Verantwortung und zudem erreichen wir mit einer nachhaltigen Produktion einen klaren Wettbewerbsvorteil. Im Werk Chemnitz bestehen darüber hinausgehende Programme, wie das so genannte ‚Total Energy Management‘ als ganzheitlicher Ansatz für Fabrikplanung und -betrieb oder auch das auf technische Sauberkeit und Ressourceneinsatz abzielende Konzept ‚Clean Factory‘. Im Rahmen von Industrie 4.0 sehe ich besonders Potenziale bei folgenden Punkten: durchgängige Transparenz der Verbräuche, wie beispielsweise Strom und Wasser, Optimierung des Monitorings, der Fertigungsabläufe – hin zu effizienterem Einsatz der Ressourcen – sowie der Fertigungstechnologie hin zu einer effizienteren Bearbeitung, z.B. des Vorschubs. Dadurch kann der Energieverbrauch je Arbeitsoperation gesenkt werden.

DIALOG: Im Endprodukt, wie dem Automobil, klappt das Zusammenspiel zwischen Stahl und IT schon bemerkenswert gut. Was sehen Sie, wenn Sie an die dazugehörigen Produktionsformen im Jahr 2025 denken, und was tun Sie dafür, um Vorreiter dieser Vision zu sein?
HN: Dies hängt vorrangig von den gesellschaftlichen Megatrends ab. So wie wir bei unseren Produkten die Trends nach Individualisierung und neuen Mobilitätsmustern wirkungsvoll in Technologie transferieren müssen, gilt es analog auch, die Produktion selbst ‚trendkonform‘ zu gestalten. In der Produktionswelt sprechen wir von einer so genannten ‚Mensch- Maschine-Co-Evolution‘. Darunter ist das Zusammenwirken von Mitarbeitern und technischen Anlagen gemeint. In dem Sinne, dass sich nicht wie bisher beides jeweils für sich genommen fortentwickelt, sondern die Transformation zukünftig vielmehr einer gemeinsamen – quasi interaktiven – Evolution unterliegen muss. Insofern werden wir alles daran setzen, einerseits unsere Produkte zukunftsfähig zu gestalten – und zwar für den gesamten Konzern – und, anderseits, mit unseren über 100 Produktionsstandorten weltweit das vernetzte und durchgängige Zusammenwirken von ‚Mensch und Maschine‘ effektiv zu organisieren. Dazu leisten wir im Werk Chemnitz bereits heute einen wegweisenden Beitrag, der uns die Vorreiterrolle nachhaltig sichern soll.

„Wir setzen alles daran‚ weltweit das vernetzte und durchgängige Zusammenwirken von ‚Mensch und Maschine‘ effektiv zu organisieren.“